Stefan Richter, Auszubildender zum Brunnenbauer
Sein Berufsweg scheint unaufhaltsam vorgezeichnet: Von Klein auf interessiert sich Stefan Richter für den Himmel und die Flugzeuge. Vater und Mutter arbeiten am Flughafen in Schönefeld. Immer wenn Gelegenheit ist, beobachtet Stefan Richter mit seinen Eltern die Flugzeuge auf der Start- und Landebahn. Irgendwann reift sein Wunsch, selber Pilot zu werden. „Mein Vater hatte seine Liebe zur Luftfahrt an mich weitergegeben”, sagt der 25-Jährige. Dass er das Abitur ablegen würde, gehört mit dazu. 2013 ist es dann soweit. Die ersten Bewerbungen bei verschiedenen Airlines sind raus, Bewerbungstests folgen, „aber der Markt sei übersättigt, wurde uns gesagt”.
Stefan Richter lässt sich dennoch nicht von seiner Richtung abhalten und entschließt sich, Luftfahrttechnik und Luftfahrtlogistik an der Hochschule Wildau zu studieren. Doch schnell wird ihm klar, dass ihm diese Art des Studiums nicht liegt. „Meine Leistungen waren völlig okay. Auch der Lehrstoff hat mich nicht abgeschreckt”, sagt Stefan Richter rückblickend. Aber die Anonymität im Studienbetrieb macht ihm enorm zu schaffen. „Ich hatte gemerkt, dass die Professoren kaum meinen Namen kennen, auch die Kommilitonen nicht. Ob ich meine Fächer durchziehe oder nicht, hätte niemanden interessiert.” Für Stefan Richter ist das zu wenig. Und er beobachtet, dass während des Semesters schon andere Kommilitonen weggeblieben sind. Er beginnt, sein Studium zu hinterfragen:
„Es war dieses Gefühl, dass ich komplett austauschbar bin. Niemanden interessiert es, ob ich bleibe oder nicht, ob ich meine Prüfungen ablege und was danach wird.”
Der Student fällt einen mutigen Entschluss – und steigt am Ende des ersten Semesters aus. Anfangs jobbt er, arbeitet für einen Pizzalieferdienst, lässt sich erstmal treiben. Eine Freundin, die das bemerkt, empfiehlt ihm, doch ein Jahr „Work and Travel” in Kanada zu versuchen. Als Orientierung sicher eine gute Idee, auch zur Selbsterfahrung. Etwas Geld hatte er beiseite gelegt, das Visum und die Flüge organisiert. Er arbeitet in der Hotelbranche, putzt die Gästezimmer und leitet eine Wäscherei. „Ich habe in Kanada viel über mich gelernt, auch mich selbst zu organisieren”, doch einen Impuls, wie es beruflich weitergehen soll, verspürt er nicht, als er 2016 zurück nach Berlin kommt.
Erst ein Zufall bringt ihn auf seinen Berufsweg, als er seinem heutigen Chef Erik Schneiderat-Engelmann in einem Imbiss begegnet. Der Brunnenbauer von nebenan hört, dass Richter auf der Suche nach Arbeit ist und lädt ihn zum Praktikum ein. Doch er wehrt ab; Bau sei nichts für ihn. „Ich kann sowieso nicht auf Leitern arbeiten.” Dass das im Brunnenbau gar nicht nötig sei, sagt ihm Schneiderat-Engelmann zwar, doch Richter ist nicht überzeugt. Abends beginnt er dennoch, sich mithilfe des Internets schlau zu machen und intensiv zu recherchieren. Es dauerte einen Moment, ehe sich Stefan Richter auf das Schnupperpraktikum einlassen will. Als er zusagt, weiß er über den Beruf „fast mehr als ich”, erinnert sich Schneiderat-Engelmann noch heute voller Achtung.
Zwei Wochen lang begleitet Stefan Richter von früh bis spät die Kollegen bei ihrer Arbeit auf die Baustellen und zu den Messstellen, erlebt, wie Brunnen gebohrt und Wasserproben genommen werden. „Ich habe in diesen zwei Wochen jede Stimme eingeholt, die ich bekommen konnte und auch jede Aufgabe mal mitgemacht.” Baustellen aufbauen, Bohrpunkte vermessen, Brunnen bohren, Pumpversuche fahren, Wasserproben nehmen und vieles mehr. Ihm wird schlagartig bewusst: Brunnenbauer ist ein interessanter und vielfältiger Beruf. „Ich hatte hautnah die Kollegen erlebt, die schon viele Jahre in diesem Beruf arbeiten.” Dem Chef ist auch klar, dass Richter „ein junger Mann mit Potenzial” ist: körperlich, geistig, theoretisch, praktisch. Zudem ist er volljährig, was den Firmenchef in seinen Aufsichtspflichten entlastet. Schnell werden sich die beiden einig und wenige Tage später, im September 2018, startet Stefan Richter seine Ausbildung zum Brunnenbauer – im Praktikumsbetrieb.
Belustigt erinnert er sich an sein Unwissen, bevor er sich mit dem Brunnenbau beschäftigt hatte. „Mein erster Gedanke war: Da werden nur Löcher gebuddelt, Schachtbrunnen ausgehoben, wo man Eimer hineinlässt und sie dann wieder hochkurbelt.” Längst weiß er, dass er mit Präzisionstechnik umgehen muss, die locker eine halbe Million Euro teuer ist, dass er Bohrer bedienen können muss, Messtechnik und Kameras ebenso und viel von Chemie, Kampfmitteln und Munition wissen sollte. „Wir arbeiten auf unseren Baustellen häufig im kontaminierten Bereich. Da darf man sich keine Fehler erlauben.” Sein Chef Schneiderat-Engelmann ist überzeugt, dass sein Azubi auf einem sehr guten Weg ist. „Durch Abitur und Studium zuvor hat er auch die nötige Blickweite”, betont Erik Schneiderat-Engelmann, dass seine Firma auch von Richter profitiert.
So ins Blaue hinein sein Studium abzubrechen, das sei ein Fehler gewesen, sagt der angehende Brunnenbauer heute. „Ich habe zu lange gebraucht, ehe ich etwas gefunden habe, was mich interessiert, und was ich dann durchziehen will.” Rückblickend ist er überzeugt, dass es unnötig war. „Ich hatte keinen Plan, als ich mein Studium abgebrochen habe.” Das würde er heute anders machen und jedem raten, sich vorher genau einen Plan zu überlegen, wenn das Studium nicht die richtige Entscheidung ist. „Auf jeden Fall empfehle ich ein Praktikum, damit man sieht, was in dem Beruf steckt.” Auch mutig zu sein und eine Entscheidung zu treffen. Er selber habe gezweifelt an sich, weil er planlos war. „Das hat mich auch bei der weiteren Suche immer wieder eingeschränkt”, resümiert er heute.
Aber er weiß inzwischen, was er kann und was er will. Erst einmal will er eine gute Abschlussprüfung hinlegen. Danach wird sein Chef mit ihm besprechen, wo Richter seine Stärken hat und wie er für die Firma nützlich sein kann. „Ich sehe mich schon hier in der Firma”, sagt Stefan Richter zuversichtlich.
Soviel darf heute schon verraten werden: Der Chef traut ihm eine Menge zu und sieht ihn in der Munitionssondierung – eine neue berufliche Herausforderung für Stefan Richter. An seinen ursprünglichen Traumberuf erinnern ihn dann nur noch die rund 200 Flugzeugmodelle, die er seit früher Kindheit gemeinsam mit seinem Vater gebaut hat. Seine „Flughöhe” richtet sich inzwischen in die Tiefe, in den Boden, auf die Gesteine und das Wasser von Berlin.
Fotos: Anna Weise
Text: Ina Krauß
Dieser Erfahrungsbericht ist im Rahmen des Projekts „Queraufstieg Berlin“ entstanden. Das Projekt wurde von 2016 bis 2020 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung als „Leuchtturmprojekte Studienabbruch“ im Rahmen der Bund-Länder-Vereinbarung zur Initiative „Bildungsketten“ gefördert.